M. Collinet: Caritas – Barmherzigkeit – Diakonie

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Titel
Caritas – Barmherzigkeit – Diakonie. Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert,


Herausgeber
Collinet, Michaela
Erschienen
Berlin 2014: LIT Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
URL
von
Andreas Henkelmann, Lehrstuhl für Kirchengeschichte II, Kath-Theol. Fak., Ruhr-Universität Bochum

Der Trierer Sonderforschungsbereich «Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exkusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart» beendete nach zehn Jahren 2012 seine Arbeit. Dass und wie es ihm gelang, Maßstäbe in der historischen Armutsforschung zu setzen, zeigt der vorliegende Sammelband, der aus einem seiner interdisziplinären Arbeitskreise entstand. Dabei handelt es sich um einen beeindruckenden Gang durch die Entwicklung der Semantik des christlichen Helfens vom Neuen Testament bis in die 1970er Jahre in interkonfessioneller und interdisziplinärer Perspektive.

Auf eine kurze Einleitung folgt ein erster Beitrag von Andreas Müller zum Neuen Testament und zur Alten Kirche. Müller arbeitet heraus, dass in seinem Untersuchungszeitraum der Begriff Caritas allgemein als Liebe verstanden wurde. Er konnte somit auch – etwa von Gregor dem Großen – benutzt werden, um ein spezifisches Hilfehandeln zu charakterisieren. Allerdings handelte es sich dabei nicht um seinen Hauptgebrauch. Zudem, so Müller, existierten auch andere Bezeichnungen, die ein solches Tun zum Ausdruck brachten, allen voran die Barmherzigkeit. Abschließend geht Müller auf die Entwicklung des Ideals der Philantropie ein. Julian Apostata setzte hier Maßstäbe. Müller vermutet eine bewusste Rezeption unter Justinian, um so einen «letzten entscheidenden Dolchstoß» (46) gegen das Heidentum zu führen. Einen zentralen Stellenwert nahm nämlich der Begriff in Agapets Fürstenspiegel ein, der während der Regierungszeit von Justinian entstand. Philantrophie wurde darin so weit gedacht, dass der Kaiser den Begüterten Besitztum wegnehmen darf, um Arme zu unterstützen.

Von einer solchen Radikalität ist im anschließenden Beitrag «‹Caritas› und Fürsorge in mittelalterlichen Quellen» wenig zu lesen. Katrin Dort analysiert darin zum einen frühmittelalterliche Rechtstexte aus der Zeit der Karolinger und zum anderen hochmittelalterlichen Betrachtungen des Almosens von zentralen Theologen wie Petrus Abaelard oder Thomas von Aquin. In den Kapitularien lassen sich unterschiedliche Hilfsmaßnahmen entdecken, die v.a. dazu dienen sollten, Bedürftige vor Unterdrückung zu schützen und ihnen konkret Hilfe, etwa in Form einer Speisung, zukommen zu lassen. Der Schutz der Armen – nicht zuletzt um des eigenen Seelenheils willen – gehörte elementar zum Selbstverständnis der karolingischen Herrscher. Wie schon in der Antike nehmen die Begriffe der Caritas und Misericordia für das gesamte Mittelalter einen zentralen Platz ein. Für die hochmittelalterlichen theologischen Traktate hebt Dort einen für spätere Zeiten entscheidenden Bedeutungswandel hervor. Während das Almosen bei Abaelard in patristischer Tradition vor allem als Akt der Gerechtigkeit gesehen wurde, brachte es Thomas von Aquin primär in Bezug zur Caritas, die er als Wirkung der Gottesliebe deutete. Wichtig für den anschließenden Beitrag zur Frühen Neuzeit ist zudem, dass sich die hochmittelalterlichen Autoren fast ausschließlich auf die Spender des Almosens konzentrierten, die Bedürftigen dagegen nur am Rand Erwähnung fanden.

Dies verschiebt sich bereits im ausgehenden Mittelalter, wie Sebastian Schmidt im dritten Artikel «Die Begriffe Caritas – Barmherzigkeit – Diakonie in der Frühen Neu¬zeit» nachweist. Schmidt zeigt an der für beide Konfessionen wegweisenden Schrift De subventione pauperum des Humanisten Juan Luis Vives von 1526 auf, dass die mittelalterlichen Begriffe wie Caritas und Barmherzigkeit zwar weiterhin Verwendung fanden, sich aber wesentliche Bedeutungsveränderungen beobachten lassen. «Vives interessiert weniger die Motivlage des Spenders, als die Situation und die Auswirkung des Almosens beim Empfänger. Ziel der Spende ist bei ihm letztlich, erzieherischethisch auf den Empfänger einzuwirken» (82). Martin Luther unterschied sich zwar in seiner Anthropologie deutlich von Vives, der ein wesentlich optimistischeres Menschenbild als der Reformator hatte. Bei allen theologischen Differenzen fallen aber v.a. mit Blick auf das konkrete Hilfehandeln deutliche Überschneidungen auf: «Darüber hinaus wird unter dem Begriff Barmherzigkeit bei Luther ebenso wie bei Vives das Moment der Erziehung stark gemacht, die notfalls mit Zwang und Disziplinierung einhergeht» (90). Dieses erzieherische Moment kann Schmidt dann etwa mit Blick auf die Unterscheidung von würdigen und unwürdigen ‹müßiggängerischen› Armen auch für die geistlichen Kurstaaten nachweisen. Bei aller Unterschiedlichkeit im theologischen Denken mit Blick auf die Frage nach der Verdienstlichkeit der guten Werke zeigen sich auffällige Parallelen zum reformatorischen Verständnis des Hilfehandelns. Leider geht Schmidt nur kurz auf die innerkatholische Gegenposition ein, die gegen eine kontrollierte, zentralisierte Almosenvergabe in scholastischer Tradition an der persönlichen Barmherzigkeit des einzelnen Christen festhielt.

Die beiden letzten Beiträge beschäftigen sich mit der weiteren Entwicklung in der Neuzeit. Der Beitrag von Thomas Kuhn «zum Wandel der sozialfürsorgerischen Semantiken im neuzeitlichen Protestantismus» ist eine beeindruckende Tour de Force, der mit der Erweckungsbewegung im ausgehenden 17. Jahrhundert beginnt und in den 1970er Jahren mit der endgültigen Fusion von «Innerer Mission» und «Hilfswerk» zum «Diakonischen Werk» endet. Mit Blick darauf, dass das protestantische Hilfehandeln heute mit dem Begriff «Diakonie» gelabelt wird, ist die semantische Vielfalt im 19. Jahrhundert bemerkenswert. Selbst für Johann Hinrich Wichern, der 1844 den Begriff der ‹Diakonie› in den Protestantismus einführte, besaßen «begriffliche Differenzierungen keine zentrale Bedeutung» (128).

Auch im katholischen Bereich nimmt der Begriff der ‹Diakonie› eine zentrale Stellung ein, allerdings begann sein Aufstieg erst in den 1960er Jahren, wie im letzten Aufsatz von Antje Bräcker, Michaela Collinet, Ingmar Franz und Christian Schröder erkennbar wird. Interessant ist auch hier wie bei Kuhn der Blick auf die Frage, wie sich der aktuelle Leitbegriff, nämlich die «Caritas», durchzusetzen vermochte. Die AutorInnen weisen nach, dass in den relevanten Predigten ebenso wie in den Zeitschriften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Caritas nur sehr selten die Rede ist. Ihres Erachtens vermag sich der Begriff erst im frühen 20. Jahrhundert durchzusetzen, offenkundig auch wegen der Gründung des Caritasverbandes von 1897. Warum eine solche Wahl erfolgte und welche Vorgeschichte sie beeinflusste – naheliegend ist die Vermutung, dass der Begriff von ultramontaner Seite als Rezeption der französischen Charité zur Abgrenzung von einem aufgeklärten Katholizismus geprägt wurde – bleibt allerdings seltsam unbestimmt. Deutlich wird wie auch bei Kuhn, dass die 1960er Jahre mit dem Aufkommen von neuen Leitbegriffen wie «Diakonie» und «Solidarität» eine Wasserscheide darstellen.

Auch wenn der Sammelband nur wenig an Scharnierfunktion zwischen den einzelnen Beiträgen liefert und nicht beansprucht, eine Gesamtdarstellung geben zu wollen, schlägt er doch eine beeindruckende Schneise in die zweitausendjährige Geschichte des christlichen Hilfehandelns und ermöglicht so einen faszinierenden Überblick. Es ist zu hoffen, dass er außerdem zum Impuls für die weitere Bearbeitung des Forschungsfelds wird. Ein wichtiger Aspekt, der auch mehrfach in den Aufsätzen anklang, ist die Relevanz des Hilfehandelns für die Identität einer religiösen Gruppe, etwa des katholisches Milieus im Kaiserreich, das beispielsweise über Geschichtsschreibung ein eigenes Caritasverständnis in bewusster Abgrenzung zum Protestantismus konstruierte. Außerdem stellt sich methodisch in Fortführung der Beiträge die Frage nach dem Zusammenhang der hier analysierten Texte mit den Fürsorgepraxen. Die Frage nach einer begrifflichen Kontinuität, die in der Einleitung bejaht wird (15), ist wohl so stärker in Bezug zum konkreten Hilfehandeln und zur Motivation des Helfenden zu setzen, um auch mögliche Brüche und Transformationen des christlichen Hilfehandelns fokussieren zu können.

Zitierweise:
Andreas Henkelman: Rezension zu: Michaela Collinet (Hg.), Caritas – Barmherzigkeit – Diakonie. Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert, Berlin, Lit-Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 484-486.

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